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Am späten Abend des 10. Augusts erreichen wir endlich Saint-Jean-P.P. - unseren Ausgangsort, der schon einige Überraschungen für uns bereit hält!
Nach ein paar orientierungslosen Runden durch den entzückenden kleinen Ort treffen wir auf unser erstes Refugio. Weit und breit keine Madame Debríl (jene berühmte „Pilgerlady", die uns würdig willkommen heißen sollte..), zumindest erhalten wir hier unsere offiziellen Pilgerpässe. Die letzten zwei Betten der schäbigen Unterkunft werden uns angeboten, wir lehnen jedoch ab - ein nettes, gemütliches Zweibettzimmer vor Augen. Schon bald müssen wir feststellen, daß es die letzten Betten des gesamten Ortes waren! Zu spät - mittlerweile haben alle Hotels, Restaurants und Bars geschlossen. Da stehen wir nun - ohne Abendessen, ohne Schlafgelegenheit, ohne Proviant für morgen. Wir beschließen, einfach loszugehen und treten unsere Pilgerreise kurz vor Mitternacht an.
Nach einer guten Stunde erreichen wir eine große Wiese, auf der wir uns ein gemütliches Nachtlager errichten. Mit der Zeit wird es feucht, ziemlich hart und sehhr kalt. Doch der Sternenhimmel entschädigt für alles.
Nach einer mehr oder weniger schlaflosen Nacht geht's um 7h los in Richtung Pyrenäen. Die Landschaft ist beeindruckend - und die Marienstatue auf halbem Weg!!!
Die versprochene Herberge mit Pilgerfrühstück scheint vom Erdboden verschluckt zu sein, wir hungern uns mit einer halben Schokotafel und ein paar Rosinen durch den Tag. Die Sonne brennt, aber ich genieße das Gehen, die Ruhe, die Landschaft, die Zeit für mich selbst. Trotz allem sind wir unendlich erleichtert, als wir das vom Nebel umschlungene Kloster von Roncesvalles erblicken.
Wir finden im Kloster Quartier und freuen uns auf Dusche, Essen(!) und Schlaf. Zuvor besuchen wir die Pilgermesse, die von acht Klosterbrüdern gehalten wird. Es tobt ein heftiges Gewitter, die Kirche ist ohne Strom. Vor dieser gewaltigen Kulisse geben unsere Mönche ein beeindruckendes Konzert! Gleich danach stürmen wir das Restaurant, wo wir ein A-la-carte-Menü einnehmen, nachdem wir vergessen hatten, Karten für das Pilgermenü zu besorgen. Etwas wehmütig schauen wir von unseren Luxusfischen auf die dampfenden Pilgerspaghetti rüber. Aber der Wein ist ein Gedicht und läßt uns sogar die exklusiven Preise vergessen. Völlig erschöpft lassen wir uns um 22h in die Betten plumpsen - doch zu früh gefreut! Es gibt einen Schnarcher unter uns, der gewaltige Laute von sich läßt..
Um 7h geht's weiter - nach einer weiteren schlaflosen Nacht. Noch immer keine Peseten in der Tasche, hoffen wir auf innigst auf einen Bankomaten oder ein Wunder. David bekommt gewaltige Probleme mit seinem Knie, die restliche Strecke nach Zubiri wird zu einer Riesenherausforderung.
Am Ort der Träume angelangt, finden wir auch diesmal kein freies Bett. Völlig am Ende schmeißen wir uns in ein Taxi und landen schließlich in Larrasoaña, wo wir über einer Bar Quartier beziehen. Endlich ein Zweibettzimmer! Wir genießen die Nacht und den Schlaf unendlich - und bleiben auch bis 8h liegen..
Weiter geht's in Richtung Pamplona! Die Pilger scheinen sich über Nacht zu vermehren, wir werden andauernd von rasenden Sonntagspilgermeuten überholt. Schon bald steht fest, daß wir unser heutiges Etappenziel nicht mehr erreichen. Davids Knie gibt völlig auf. Um 12h landen wir in La Trinidad de Arre und verbringen den Nachmittag im Park. Ich bin frustriert, komplett aus dem Konzept geworfen, weiß nicht so recht, was ich tun soll. Gerade mal drei Tage unterwegs und schon Endstation? Es dauert eine ganze Weile, bis ich mich mit der Situation einigermaßen anfreunden kann. Aber unser Refugio gibt wieder neuen Auftrieb - einfach grenzgenial!
Am Abend beschließen wir eine kleine Runde durch den Ort zu drehen, wieder mal auf (vergeblicher) Suche nach einem Pilgermenü. Der „Ort" gehört allerdings schon zu Pamplona und ist riesengroß! So kommen wir doch noch zu einem ordentlichen Hatscher..
Nach einer sehr erholsamen Nacht (eigenes Schnarcherzimmer!) gehen (ich) bzw. humpeln (David) wir auf Pamplona zu. Dem vorbeifahrenden Bus können wir dann doch nicht widerstehen, ganz gemütlich düsen wir an den braven Pilgern vorbei.
In Pamplona shoppen wir und legen uns wieder jede Menge Gepäck zu, nachdem wir uns kurz zuvor - um teures Geld! - auf der Post von ebendiesen Kilos getrennt hatten.
Wir verlassen die Stadt um 10h in Richtung Puente la Reina. Es hat mittlerweile 40°C im Schatten - nur leider keiner da! Die Landschaft ist traumhaft - weiche, sanfte Hügel in allen Farben, Windmühlen, alte Dörfer...Leider scheint die Gegend auch bei Fliegen sehr beliebt zu sein. Wieder mal eine gewaltige Herausforderung!!
Um 17h30 treffen wir in Uterga ein, wo gerade Festvorbereitungen im Gange sind. Der Ort scheint zunächst ohne Herberge, Pension oder Bar, doch dann taucht am Ortsende ein wunderbares Privathospiz auf! Wir sind herzlich willkommen bei dieser lieben und fürsorglichen Familie und sind nun schon auf das heutige Fest gespannt.
Das ganze Dorf ist in Aufruhr, jeder in Fiestastimmung. Nach unserem üblichen Flascherl Wein (der leider immer schlechter wird) ist die Fiesta noch immer nicht richtig im Gange, etwas enttäuscht gehen wir zu Bett. Zuvor serviert uns unsere liebe Wirtin ein deftiges Abendmahl, das unsere Bäuche heftig erschüttert. Kaum liegen wir im Bett, beginnt das Fest auf der Plaza so richtig loszustarten. Wie sich's gehört, dauert der ganze Spaß bis 6h früh, und wir zwei tun wieder mal kein Auge zu..
Mit dem Gefühl, selbst die ganze Nacht auf diesem Fest verbracht zu haben, trotten wir frühmorgens los. Es ist recht kühl, und schon bald treffen wir in Puente la Reina ein. Nach weiteren Einkäufen befindet sich nun ein 4-Gang-Menü auf unseren Rücken! Mit Joghurtdrink und Tomatensaft ausgestattet, haben wir unseren Wasservorrat erheblich überschätzt. Das wird uns auch zu einem gewaltigen Verhängnis! Wir quälen uns durch die sengende Hitze - an diesem Tag überschreite ich meine Grenzen nicht nur ein Mal..
In den kleinen Orten am Weg gibt es weder Bars noch Pensionen und so landen wir nach einem 30km-Marsch in Estella. Wir übernachten im städtischen Notquartier, das recht nett und geräumig ist. Hier treffen wir die von uns bereits verloren geglaubten Pilgermassen wieder, die sich sehr brav an die Etappen zu halten scheinen.
Körper und Geist sind immer noch durcheinander, wir planen einen entspannenden Tagesablauf. Bereits am Vormittag lassen wir uns in Villamayor de Monjardín nieder, wo ein Niederländer ein faszinierendes Hospiz an einem sehr gewaltigen Platz betreibt. Die Versuchung, uns sofort einzuquartieren, ist groß. Wir widerstehen vorerst und legen uns unter einen großen Baum.
Kurz nach 18h raffen wir uns zu einer Abendetappe auf. Nach zwei Stunden fällt das Gehen trotz optimaler Bedingungen schwer, wir bauen uns ein Nachtlager inmitten großer Strohballen. Es kommt enormer Wind auf, langsam zieht am Himmel Gewitterstimmung herbei. Wir brechen auf, in Richtung Steiniglu, den wir schon zuvor - ob seiner grandiosen Lage - bewundert haben. Er scheint das Nachtlager des vorbeiziehenden Schafhirten zu sein. Es ist bereits spät und stockdunkel, der Iglu sehr klein. Ich fühle mich bedrückt und ängstlich - wann wird der Hirte wohl sein Lager beziehen? Nur sein Hund erscheint in dieser Nacht. Dennoch kann ich keinen Schlaf finden.
Gegen 8h ziehen wir weiter. Die Gegend zwischen Villamayor und Los Arcos gibt ein Gefühl völliger Freiheit. Runde Hügel, unendlich weite, weiche Felder in allen Farben, soweit das Auge reicht. Los Arcos hingegen ist enttäuschend. Ohne große Pausen erreichen wir um ca. 16h Viana.
Ein ganz reizender Ort!! Viele Bars, enge Gäßchen- und vor allem ein günstiges und exklusives Hotel! David entschließt sich nun endgültig mit dem Bus zu reisen, unsere Wege trennen sich hier. Ein mulmiges Gefühl, eine ungute Ahnung, zuwenig Vertrauen in den Weg. Eigentlich erscheint es jetzt unmöglich, alleine weiterzugehen.
Schon um 6h30 ziehe ich los, natürlich viel zu früh - ich sehe keine Pfeile und verirre mich andauernd. Der Weg verblüfft mich wieder total - wie immer kommt alles ganz anders als erwartet.
Bald stellt sich heraus, daß die Etappe Viana-Navarrete ausschließlich aus Großstadt (Logroño), Industriegebieten und von Joggern vollgestopftem Freizeitgelände besteht. Völlig frustriert rase ich dahin, will nur weg von hier. Statt um 15h bin ich bereits um 11h30 am Ziel. Gefällt mir nicht so gut hier, das kann's wohl nicht gewesen sein, ich hänge noch eine Etappe dran. Nach 30km tut alles weh. Ich bin wütend, verzweifelt, alleine. Den ganzen Tag habe ich keinen einzigen Pilger getroffen und seit Navarrete keine Menschenseele mehr. Die letzten Kilometer befinde ich mich in völliger Trance, ich werde von unsichtbarer Hand getragen.
David hat schon ein Bett reserviert, heute gönnen wir uns ein tolles Lokal mit feinem Rioja-Wein. Voller Vorfreude auf Bett und Schlaf kehren wir in unsere Herberge zurück, um - wie so oft - heftig überrascht zu werden. Cerrado. Da stehen wir nun, völlig verdattert, vor fest verriegelten Fenstern und Türen, die an Hochsicherheitstrakte erinnern. Es dauert etwa eine Stunde bis wir ein (recht nobles) Hostal finden. Zumindest haben wir uns auf diesem Wege vor dem schnarchenden Pavarotti aus Frankreich gerettet!
Am nächsten Morgen dann die böse Überraschung: in der Herberge gab's Sockenklauer! Nach langer Suche finden wir zwar einen Sportladen mit Trekkingsocken - die sind allerdings aus kratziger Wolle, konzipiert für ca. -30°! Oh Gott, was für ein Tag! Es folgen außerdem 12km Pilgerei direkt an der Straße, plus 5km Stadteinfahrt. Eines ist sicher: ab morgen sitzen wir beide im Bus.
Freundliche und schöne Herberge im Kloster - schließt erst um 23h!
Wir starten recht früh, David schläft noch. Die so lieb gewonnenen Rioja-Weinfelder wandeln sich in die Getreidefelder Burgos' - wunderschöne Gegenden! Von Redecilla nehmen wir den Bus nach Belorado - ein grauslicher Ort, den wir schnellstens verlassen. David beschließt nun, sich nur mehr seinem Schmerz - der sich mittlerweile in tausend kleine Schmerzchen gewandelt hat - zu widmen. Und so leidet sich der tapfere Mann mit den stinkenden Füßen durch den Tag.
Die städtische Herberge von Villafranca besteht aus lauter 8-Mann-Zelten. Es gibt auch einen Waschraum, wo David zum ersten Mal Socken wäscht! Prompt sind wir ein zweites Mal in einem Dorffest gelandet - wie gehabt bis 23h Kinderparty und dann geht's los bis um 5h. Die Windrichtung ist gnädig, wir schlafen doch ein wenig.
Um 10h krabbeln wir aus unserem Zelt, heute geht's ins nur 12km entfernte Dörfchen San Juan. Ich fühle mich wie auf der Kärntner Alm - ähnliche Vegetation, viele Kühe...und kalt!! San Juan liegt auf einer Höhe von 1000m, ein winziges Örtchen, und hätten wir nicht von dem vielgepriesenen Abt gehört (den es natürlich längst nicht mehr gibt..), wäre ich schnellstens weitergezogen. Ganz eigene Stimmung hier - eine verschnuddelte Bar, nur Pilger, ein düsteres Kloster ohne Warmwasser und Toilettenpapier..
Neuer Tag - neues Glück. Wir verschwinden möglichst früh und erreichen zitternd vor Kälte um 9h die erste Bar. Vermutete Außentemperatur: 5° in der Sonne - nur leider keine da!
Ab Atapuerca (interessanter Ausgrabungsort) geht's recht trostlos weiter - Industrie, Lärm und Dreck. Wir fahren mit dem Bus nach Burgos, von dort mit dem Taxi nach Tardajos. Das ist ein Pilgerleben! Unser heutiges Quartier ist klein und farblos, die Gegend recht trist. San Juan war für mich ein zweiter großer Wendepunkt. Was kommt wohl jetzt auf uns zu?
Im einzigen Restaurant von Tardajos gibt es um 21h30(!) ein recht karges Menü. Zum ersten Mal sitzen wir in einer Pilgerrunde - sehr eigenes Völkchen, weiß nicht, ob ich mich da zugehörig fühle..
Am nächsten Morgen bin ich zum ersten Mal glücklich, die Letzte zu sein und so einigen Abstand zu unserem Pilgertrüppchen zu halten.
Die Landschaft hat sich komplett geändert. Endlose Weiten, Kargheit, Leere. Eine Wohltat für die Sinne, die zuvor soviel Neues aufgenommen hatten. Es ist windig und sehr kalt, alles ganz anders als bisher. Die Zeit des Loslassens, Befreiens, Leerwerdens hat begonnen. Nach der Marienstatue wird ein zweites Bild sehr wichtig für mich: ein karges Feld, das aus seiner Umgebung sticht, vor einem Horizont aus Wolken und ein wenig Blau. Es vermittelt das Gefühl völlig frei zu sein, von hier aus kann man überall hin. Ich bin mir sicher, ich kann losspringen und auf den Wolken landen.
Der Ort, an dem wir übernachten wollen taucht wie aus dem Nichts hervor. Sehr düster, unheimlich, tot. Ich kann David zu einer weiteren 10km-Etappe überreden.
Castrojeriz - genau von diesem Ort habe ich heute geträumt! Statt nun brav nach dem Refugio zu suchen, klopfen wir schon ans erste Hotel. Nachdem wir das Designbad mit Riesenbadewanne erblicken, beziehen wir die Suite mit Blick auf das Castello. Zum ersten Mal essen wir auch wirklich fantastisch. Was für ein Abend!
Wir brechen heute den Rekord der faulen Pilger und marschieren erst um 12h los! Heute geht's recht flott dahin, diesmal ohne Weinproviant (mit dem wir schlechte Erfahrungen hatten..). In Boadilla ist Endstation, ganz neue, liebe Herbergsanlage mit Bar und Restaurant. Es wird die Nacht der 1000 Gelsenstiche..
Am nächsten Morgen geht's juckend und kratzend weiter, immer schön entlang des Gelsenreviers am Canal de Castilla... Wir machen an einem versteckten Uferplatz Halt. Aus einem Mittagsachterl wird wieder ein Mittagsflascherl, aus dem Mittagsnickerchen ein tiefer Mittagsschlaf.. Am Abend erreichen wir schließlich Carríon de los Condes, wir stopfen uns in eine sehhr enge Riesenherberge mit jeder Menge spätpubertärer Radpilger. Äußerst unbequeme, unangenehme Nacht. Dafür werden wir am Morgen um 7h (stockfinster!) von dem Gebrüll der gefürchteten Aufseherin Margarita geweckt und hocken bereits um 7h20 halb schlafend und fürchterlich frierend vor dem Albergue!
Von nun an wird der Jakobsweg zu Davids Begeisterung zur Römerstraße - zumeist Wege aus roter Erde, eingebettet in das satte Gelb der Getreidefelder. David ist voller Elan und beschließt fortan die „Rolle der treibenden Kraft" zu übernehmen.
Zur Mittagszeit sind wir bereits 20km gelaufen und erreichen endlich die Bar von Calzadilla. Um uns die restliche Etappe von 17km zu ersparen, versucht es David diesmal mit Autostop und überrumpelt damit zwei völlig ahnungslose Franzosen. Nach kurzem Hin und Her zwängen wir uns in ihren vollbepackten Wagen und lassen uns bequem nach Sahagún chauffieren. Ein lieber Ort, doch wir beschließen ins 10km entfernte Calzada del Coto aufzubrechen. Ein entsetzlicher Ort mit vielen unfreundlichen Leuten, kein Restaurant, ein versperrter Container als Refugio. Es gelingt uns schließlich die Schlüssel aufzutreiben und im Container wird's richtig gemütlich - wir sind nämlich die einzigen Gäste!
Etwas später geht's los, in Begleitung einer ganz lieben Hündin, die uns bis nach Calzadilla de Hermanillos begleitet. David muß schließlich mit seiner ganzen Autorität anfahren, um sie wieder loszuwerden und von ihrem neuen Glück in Calzadilla zu überzeugen.
Es gibt hier keine einzige Bar - wir kaufen Proviant und verbringen den Nachmittag in einer Grube unter dem einzigen Gebüsch am Weg. Vom Wein zu neuen Kräften gelangt, werden wir recht übermütig und nehmen uns die 15km-Etappe nach Mansilla de las Mulas vor.
Nach 20h geben wir auf. Meine Füße sind voll mit Blasen, dank der übergroßen, kratzigen Wollsocken. Ich weigere mich, noch einen Schritt zu gehen! Wir legen uns in eine Wiese und von Mosquitoschwärmen eingelullt, hoffen wir auf eine warme Nacht. Leider wird es saukalt und ich entgehe knapp dem Erfrierungstod!
Frecherweise werden wir von einer Runde frühstückender Franzosen geweckt, die sich's neben unserem Nachtlager bequem macht. Und wieder marschieren wir los - heute erreichen wir Mansilla auch! Wie so oft gelüstet uns auch heute nach einer etwas nobleren Unterkunft, die wir dann auch in León finden. Die Strecke Mansilla-León legen wir im Schulbus zurück.
León ist heute genau richtig - endlich eine Großstadt, viele Leute, haufenweise Geschäfte - und neue Trekkingsocken!
Von der Großstadt völlig aus dem Pilgerleben gerissen und ziemlich pleite noch dazu, verlassen wir León um 14h mit dem Bus in Richtung Astorga.
Diese „Disneyland-City", vollgestopft mit japanischen Fotofreaks, geht mir trotz beeindruckender Kathedrale und Gaudí-Schlösschen bald auf den Nerv. Wir gehen los - Ziel ist Sta.Catalina. Endlich wieder Ruhe, Landschaft, Einsamkeit. Sta.Catalina ist anders.
Da war zuerst die Etappe des Leidens, der Anstrengung und der vielen Erwartungen - ständig ein Ziel (Santiago) vor Augen; dann kam die Zeit der Leere und des Loslassens. Tatsächlich haben wir in diesem zweiten Abschnitt nicht viel aufgenommen, es sind kaum Erinnerungen geblieben. Hier ist das Ende, es fühlt sich neu und anders an.
Das Albergue ist winzig und trotz aller Befürchtungen wird es dann sehr nett.
Der nächste Tag bestätigt meine Ahnung. Die Gegend ist völlig verändert, mystisch, gewaltig. Ich merke, daß ich nun wieder aufnehmen kann und sauge diese wunderbare Umgebung förmlich in mich auf. Wir halten uns an Sigrids Geheimtip und kehren in Manjarín ein.
Schon am Vormittag war uns die völlig veränderte Pilgerszene aufgefallen: viele junge, zum Teil etwas ausgeflippte Leute, darunter einige Althippies auf der Suche nach den 70ern. Ebendieses Pilgertrüppchen finden wir dann auch bei Don Tomasio (ein Anhänger der Templertradition, der sich in dem verlassenen Ort Manjarín niedergelassen hat) vor. Wir ändern kurzfristig den Übernachtungsplan und marschieren weiter - Glück gehabt! El Acebo ist ganz toll! Und statt in Don Tomasios Hühnerstall, übernachten wir in einer Superherberge mit wenig Leuten, Superessen und Superschlaf.
Wir frühstücken um 12h in Monur, wo uns einige der erstaunlicherweise recht frisch wirkenden Manjaríngesichter über den Weg laufen. Die weitere Stecke haut uns nicht von den Socken, das vor uns liegende Ponferrada erweist sich mehr als häßliche Großstadt, als das erwartete mystische Templerörtchen. Mal sehen, was da wohl wieder auf uns zukommt.
Die letzten km nach Ponferrada - und ein Wirbel beginnt verrückt zu spielen.. Mein Körper gibt fast auf, der Geist dreht durch. Mir ist übel, alles kreist, ich bin halb ohnmächtig. Nach einer Stunde finden wir ein Hostal, in dem ich nach Davids Shiatsu eine fiebrige Nacht verbringe. Mein Körper arbeitet so stark wie noch nie!
Nach einem kurzen Bummel durch Ponferrada verlassen wir gegen Mittag diese „Schutthalde" (gesamte Altstadt ist Baustelle!). Wir hatschen durch Vorstädte mit schmucken Schrebergärtchen und gelangen schließlich nach Cacabelos - nettes Städtchen mit „Duschkabinenalbergue" und eigenem Fluß-Sandstrand mit Cocosschirmen am Río Cúa!
Mittlerweile sind wir an ganz andere Aufstehzeiten gewöhnt - hier müssen wir schon um 8h raus! Wir stellen fest, daß es um diese Zeit noch dunkel und fürchterlich kalt ist. Nach 2 Stunden erreichen wir Villafranca del Bierzo. Uns gelüstet nach neuen Herausforderungen, und so nehmen wir die schwierige Bergstrecke nach Trabadelo in Angriff. Es geht ziemlich senkrecht dahin, aber wir packen das ganz locker! Wunderschöne Strecke, ganz alleine unterwegs! Trabadelo besteht eigentlich nur aus einer Raststätte für Autopilger, auch die nächsten Orte sind recht furchtbar. Wir beenden unsere Etappe in Vega de Valcarce und quartieren uns in die Pension ein.
Frühmorgens geht's an die nächste Herausforderung - O Cebreiro. Viele neue frisch wirkende Gesichter und einige Bustouristen sind mit uns unterwegs - alles Ausflugspilger..Sehr grüne, saftige Gegend, erinnert uns wieder stark an österreichische Almen. O Cebreiro ist ein reizvolles Dorf, ganz oben am Berg. Leider ist es das Sonntagsausflugsziel für Senioren und außerdem sehr windig. Mir gefällt's hier, doch David zieht es wieder mal weiter. Er probiert es ein zweites Mal mit Autostop, doch leider ziemlich erfolglos. Von den drei Wagen, die da in einer Stunde vorbeirollen, hält keiner.
Eine Stunde später, bei der Abzweigung zum Albergue, hat doch noch jemand Erbarmen mit uns, und so erreichen wir zumindest Triacastela. Wir mieten uns über einer Bar ein und verbringen eine kurze Nacht.
Um 7h40 sitzen wir schon im Bus und damit sich's ordentlich auszahlt überfahren wir gleich drei Etappen - bis Melide. Völlig aus dem Gehen, der Landschaft und dem Pilgerleben herausgerissen fällt mir der Einstieg hier recht schwer. Ich trotte grantig dahin, kann die Umgebung um mich nicht mehr verstehen - zu lange im Bus gehockt, der landschaftliche Wechsel ist zu kraß. Wir bleiben über Nacht in Ribadiso - schön gelegenes Refugio, zwischen Fluß und Wiesen. Die Chefin hier ist ziemlich resolut, wir sind beleidigt und geben auch kein Donativo!
Unser letzer Tag! David hat sich für heute die 35km-Etappe vorgenommen um noch einmal zu zeigen, was alles in ihm steckt. Der große Run auf Santiago hat begonnen. Pilgermassen, die sich durch die letzten 100km pilgern, um die heißbegehrte Pilgerurkunde zu ergattern. Furchtbar. David kommt langsam ins Schwitzen und kämpft mit seinen 35km herum.
Wir schaffen's trotzdem. Ein ganz toller Herbergspapá erwartet uns, wir bekommen in diesem riesigen 1000-Betten-Komplex ein 8-Bett-Zimmer für uns alleine! Das Abendessen ist bei weitem das (mengenmäßig) Gigantischte seit Beginn unseres Pilgerlebens. Vollgestopft bis obenhin kämpfen wir uns die 2km von San Marcos zurück in das Albergue.
Wir bleiben bis 10h30 liegen, nachdem es in der Nacht ziemlich rundgegangen war. Lauter besoffene Pilger vor unserer Tür!
Mit dem Bus erreichen wir Santiago in etwa 5 Minuten. Leider versäumen wir die Pilgermesse - vielleicht ganz gut so. Komisches Gefühl, in Santiago zu sein - viele Touristen, Lärm, kitschige Souvenirbuden, die Muscheln, Pilgerstäbe und -umhänge verkaufen, dazwischen ein paar recht verloren wirkende Pilger, Dutzende Lokale mit Pilgermenüs (als ob die jetzt noch jemand braucht..), ein staatliches „Pilgerbüro", das uns Urkunden verweigert, weil wir die letzten 100km nicht zufuß zurückgelegt hatten und es natürlich nur auf die letzten 100km ankommt..
Es geht nicht nur mir so. Während David die Kathedrale besichtigt, sitze ich etwas verloren auf der Kirchenmauer und treffe den „coolen" Pilger aus Pamplona wieder, der die ganze Zeit mit einer kleinen Umhängetasche, Shorts, T-shirt, Strandschlapfen und Sonnenbrille unterwegs war. Er beugt sich vor und fragt „Is this where Santiago is?", um dann mit gewohnt lässigem Gang in die Kathedrale zu schlapfen. Den ganzen weiten Weg sind wir gepilgert und Santiago war das Ziel. Kein Ziel mehr und auch keine gelben Pfeile. Sie enden vor der Kathedrale, vor dem Grab Santiagos.